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„Warum heißt es im vierten Gebot nicht auch: Du sollst deine Kinder ehren?“ Diese Frage stellte der damals 19-jährigen Kindermörder Jürgen Bartsch sowohl vor Gericht, als auch während des Interviews zu dem über ihn gedrehten Dokumentarfilm von Rolf Schübel oder dem zu seinem Fall veröffentlichten Buch von Paul Moore. Bartsch war bei seiner ersten Tat 15 Jahre alt.
In den Jahren 1961 bis 1965 hatte der junge Metzgergeselle vier Jungen in eine Höhle bei Wuppertal verschleppt und dort gequält und ermordet. Verbrechen, die seinerzeit unzählige Menschen in ihren Bann zogen. Dass der Fall zu einem Jahrhundertprozess ausufern sollte, war jedoch noch lange nicht klar, als die Presse ihn zunächst einhellig als die grausamste Bestie der deutschen Geschichte bezeichnete. Gleich nach Hitler setzte ihn eine große deutsche Boulevardzeitung auf Platz zwei der schlimmsten Mörder überhaupt.
Erst allmählich entblätterte sich durch die beiden Gerichtsprozesse 1967 und 1969 das Wesen eines jungen Mannes, der selbst von seinem einstigen Jäger, dem damaligen Hauptkommissar und den Leiter der SOKO Jürgen Bartsch, als außerordentlich tragische Figur beschrieben wurde.
In eines der schwersten Nachkriegsjahre 1946 hineingeboren, wird Bartsch von seiner Mutter auf der Entbindungsstation des Krankenhauses zurückgelassen und wächst zunächst für ein Jahr unter den Schwestern der Station auf. Einen Steinwurf entfernt wünscht sich das kinderlose Ehepaar Bartsch nichts mehr als Nachwuchs. Schließlich hat man eine gut gehende Metzgerei und keinen Erben.
Die Sehnsucht nach einem Kind kollidiert im Hause Bartsch allerdings rasch mit der Bereitschaft, sich um den Jungen auch angemessen zu kümmern. Jürgen wächst in Angst auf. Seine hysterisch saubere Mutter zerschlägt Kleiderbügel auf ihm, wenn er im Weg ist oder aus Versehen ein frisch geputztes Zimmer betritt.
„Wenn er doch auch mal so spielen könnte, wie die anderen Kinder ...“, spricht er von sich in der dritten Person zu den Nachbarn. Doch sich schmutzig zu machen kommt für Jürgen nicht in Frage. So darf er auch nicht mit anderen Kindern spielen, sondern sitzt allein in seinem Kellerzimmer und singt zu den Schlagern von Freddy Quinn.
Als solches Kind wird er in der Schule schnell zum Außenseiter. Regelmäßig passen ihn die anderen auf dem Heimweg ab und verprügeln ihn. Bald stielt er Geld aus der Kasse seiner Eltern, um ältere Jungen für seinen Schutz zu bezahlen. In seiner Fantasie malt er sich aus, wie es wäre, sich zu wehren. Zuhause schreibt er mit großen Buchstaben die Wörter „DER RÄCHER“ an die Wand.
In seinem Zimmer stapeln sich Brettspiele und Quartetts, doch Jürgen hat niemanden, der mit ihm spielt. Als die Situation für Eltern und Kind gleichermaßen unerträglich wird, kommt Jürgen ins Heim. Endlich ein Ort, an dem er Anschluss findet und sogar schmutzig aus dem Wald zurückkommen darf. Doch das Glück ist von kurzer Dauer. Der Mutter ist es nicht sauber genug. Dem Vater der Umgang zu lax.
Man reicht ihn weiter nach Marienhausen ins Knabeninternat der Salesianer Don Boscos. Dort herrschen Angst und Silentium. Und Pater Pütz. Wer spricht, wird geprügelt. Wer seine Schuhe nicht auf Hochglanz poliert, wird geprügelt. Nur manche Kinder haben es besser, wenn sie bei Pütz eine Privatbeichte ablegen und dabei mit ihm schmusen, sagen Ehemalige später aus.
Auch Freundschaften unter den Jungen sind verboten. Wer Ringe unter den Augen oder feuchte Hände hat, gilt als homosexuell. Wer seinen Gelüsten nachgibt, wenn sich bei ihm „das Blut staut“, riskiert den Rausschmiss. Trotzdem findet Jürgen dort zum ersten Mal einen echten Kameraden. Doch bald schon lassen Eifersucht und Verlustangst die Freundschaft zur Obsession werden.
Als er krank wird, muss er bei Pater Pütz im Zimmer schlafen. Tagsüber bekommt er dessen Radio und darf im Bett bleiben. Nachts muss er sich dafür neben den Pater legen und anfassen lassen. So zumindest schildert er diese Zeit in seinen Vernehmungen. Zu beweisen ist davon nichts. Zweimal haut er aus Marienhausen ab.
Beim zweiten Mal ist sein Freund Detlef dabei. Als sie an den Gleisen entlang fliehen, folgt er einem Impuls und versucht, ihn unter den Zug zu stoßen. Es misslingt und Jürgen erklärt, dass er nur gestolpert sei. Tatsächlich erschrickt er selbst maßlos über seine Tat und Absicht.
Wenige Monate später beginnt er eine Lehre in der elterlichen Metzgerei. Abends streunt er durch die Gegend und entdeckt im nahe gelegenen Wald einen verfallenen Bunker, wo er sich eine geheime Zufluchtsstätte einrichtet.
Im Laufe der nächsten Jahre lockt er zwei Jungen dort hinein und zieht sie unter Anwendung von Gewalt aus. Nachdem er eine Weile an ihren nackten Körpern herumgespielt hat, lässt er sie wieder laufen.
Wenn der Lehrling Jürgen die Metzgerei nicht ordentlich genug putzt, wirft seine Mutter mit Messern nach ihm. Abends badet sie den Vierzehnjährigen dann voller Reumut. So, wie sie es schon immer getan hat. Dieses Ritual hält sich beinahe bis zum Schluss.
In den kommenden Monaten verstärken sich Jürgens Fantasien, Jungen zu entführen und in seiner Höhle zu foltern. Und erstmals spürt er insgeheim, dass es auf lange Sicht nicht bei Fantasien bleiben wird. 1961 – Jürgen ist jetzt 15 – setzt er sie zum ersten Mal in die Tat um.
Der Schock über das eigene Verbrechen löst ein tiefes Verlangen in ihm aus, von seinem Drang loszukommen. Er bereut und bittet Gott inständig, in von seinen Fantasien zu erlösen. Für zweieinhalb Jahre kann er sich im Zaum halten. Er studiert seinen Trieb. Und kontrolliert ihn. Trotzdem geht er auf Tour und sucht nach Jungen.
Die nächsten drei Taten folgen in wesentlich kürzeren Abständen. Immer kommt ihm dabei scheinbar der Zufall „zuhilfe“. Es ergeben sich Situationen, in denen er nicht mehr widerstehen kann.
Erst der fünfte Junge beschert den Dingen eine Wendung. Während Jürgen ihn gefesselt in seiner Höhle zurücklässt, um pünktlich zum Abendessen zuhause zu sein, kann sich das Kind befreien und die Polizei verständigen. In der Höhle werden Leichenteile der vier anderen Opfer gefunden.
Im Dezember 1967 wird Jürgen Bartsch zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Laut Gutachten sind seine Aussichten auf Besserung gleich null. Journalisten und Psychologen beginnen sich daraufhin dafür einzusetzen, dass Jürgen, der laut seinen Gutachten als psychisch krank eingestuft ist, entsprechend untergebracht und aus dem Regelstrafvollzug entfernt wird.
Aus München wird Staranwalt Rolf Bossi für die Revision des Falles engagiert. Es formieren sich Forderungen nach einer angemesseneren Behandlung. Erstmals zieht man Gutachter hinzu, die auf Sexualstraftaten spezialisiert sind.
Die Ansätze dieser neuen Garde von Experten beruhen auf der Annahme, dass ein Lebewesen durch das geformt wird, was es im Laufe seines Lebens erfährt und erlebt. Erstmals zu jener Zeit spielt die Sozialisation gegenüber Begriffen der traditionellen Psychiatrie wie Anlage und Vererbung eine federführende Rolle. Der Fall Bartsch wird spätestens in diesem Augenblick zum Jahrhundertprozess.
Zu guter Letzt werden die Taten als ein Abbild dessen gesehen, was zuvor in seiner Entwicklung stattgefunden hat. Die Revision entscheidet für 10 Jahre Jugendstrafe im psychiatrischen Maßregelvollzug und anschließender Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt.
Weil er weiterhin Mordfantasien hat, beantragt Jürgen Bartsch 1974 seine „Ungefährlichmachnung“ im Sinne einer Kastration. Bei seiner Operation 1976 erleidet er durch eine Überdosierung des Narkotikums einen tödlichen Kreislaufzusammenbruch.
Dem verantwortlichen Pfleger ist Ähnliches schon einmal geschehen. Er wird zu einer Bewährungsstrafe wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Ob die Umstände des Todes von Jürgen Bartsch gänzlich als Unfall gelten können, wird nie abschließend geklärt.
Leo Tolstoi sagte einmal: „Tout comprendre, c’est tout pardonner“. Goethe erklärte: „Ich habe nie von einem Verbrechen gehört, das ich nicht selbst hätte begehen können.“
In welcher Weise dieser Fall meine weitere Recherche geprägt, und schließlich zur Arbeit an KINDER DES BÖSEN geführt hat, werde ich Euch im dritten und letzten Teil von WO BEGINNT DAS BÖSE? verraten.
Bis dahin alles Gute!
Euer
Jan